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Weltweit sind über 60 Prozent der Erwerbstätigen in der informellenWirtschaft tätig, in manchen afrikanischen Ländern sind es 90 Prozent. Auch im globalen Norden ist die informelle Beschäftigung viel verbreiteter als angenommen. Die Arbeitsbedingungen sind dabei zumeist prekär und ins-besondere Frauen sind davon betroffen. Anlässlich des „Welttag für menschenwürdige Arbeit“ am 7. Oktober 2019 haben das VIDC, das Internationale Referat des ÖGB, der Verband Österreichi-scher Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB) und der Verein “weltumspannendarbeiten“zu diesem Thema internationale Expertinnen eingeladen. Sie diskutierten vor über 100 Besucher*innen im ÖGB Veranstaltungszentrum die Arbeits-und Lebensrealitäten der informell Beschäftigten sowie zivilgesellschaftliche beziehungsweise gewerkschaftliche Lösungssätze zur Verbesserung deren Arbeitsbedingungen.
Korinna Schumann, ÖGB Vizepräsidentin und Bundesfrauen-vorsitzende begrüßte die Teilnehmer*innen. Sie wies darauf hin, dass die Veranstaltung nicht zufällig am „Welttag für men-schenwürdige Arbeit“stattfinde. Dieser Welttag sei anlässlich der Gründung des Internationalen Gewerkschaftsbundes vor 13 Jahren in Wienins Leben gerufen worden. Die zentrale Voraussetzung für menschenwürdige Arbeit seien geregelte Arbeitsverhältnisse –diese aber seien weltweit oft bei Weitem noch keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Ausnahme. Das gelte besonders im globalen Süden, aber immer stärker auch in Europa. Es müsse also darum gehen, voneinander zu lernen.
Die Aufgabe des VIDC, betonte die Geschäftsführerin Sybille Straubinger, liege gerade im inter-nationalen Austausch und im Lernen voneinander. Dazu lade das Institutimmer wieder internatio-nale Expert*innen ein. Der Titel der Reihe „Unerhört“ stelle dabei die Perspektive und Situation von Frauen in den Vordergrund, die von den diskutierten Themen, wie auch der informellen Arbeit, besonders betroffen seien. Gleichzeitig gehe es darum, dass Frauen gehört werden, also nicht nur über sie gesprochen wird, sondern dass wir ihnen zuhören und sie unmittelbar zu Wort kommen zu lassen. Für die Vorbereitung der Veranstaltung danke sie Michael Wögerer (weltumspannend arbeiten, ÖGB), Isabelle Ourny (VÖGB) sowie Franz Schmidjell (VIDC).
"Informal is normal"
Rita Isiba begann die Moderation der Veranstaltung mit einer Beschreibung des informellen Sektors: hiermit seien solche Arbeitsverhältnisse gemeint, die nicht staatlich reguliert seien, in denen keine Steuern gezahlt würden und in denen es keine sozialen Sicherungsmaßnahmen gebe. Solche Arbeitsverhältnisse gebe es nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa –man denke nur an Pflege-oder Reinigungskräfte.
Es sei keine Selbstverständlichkeit, begann Karin Pape stell-vertretende Geschäftsführerin der Organisation WIEGO (Women in Informal Economy: Globalizing and Organizing), dass informell Arbeitende überhaupt gehört und von Gewerkschaften eingeladen würden; dass sie selbst sprechen könnten, statt dass lediglich andere über sie und für sie sprechen. Auch daher sei diese Veranstaltung so wichtig. Weltweit seien rund 61 Prozent der Menschen in der informellen Wirtschaft tätig und hätten kein geregeltes Arbeitsverhältnis. Somit hätte die Mehrheit der arbeiten-den Menschen keine Rechte. Die informelle Ökonomie wachse stetig. Dies sei eine große Überraschung gewesen, nachdem die Informalität erstmals in den 70er Jahren durch Studien der Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) belegt worden sei. Die Annahme sei vorher vielmehr gewesen, dass es sich um ein vorübergehendes Phänomenhandle, ihr Ausmaß im Laufe der Entwicklungsprozesse stetig abnehmen würde. Ebenso wichtig sei zu betonen, dass es falsch sei, vom ‚informellen Sektor‘ zu sprechen. Informalität gebe es in vielen Sektoren – daher spreche man von der informellen Ökonomie. Zudem handle es sich nicht um ein Randthema, weltweit sei die Mehrheit der Beschäftigten davon betroffen. Deshalb sei das Motto von WIEGO auch ‚informal is normal‘ (informell ist normal).Die Arbeitsverhältnisse in der informellen Ökonomie seien vielfältig –es gebe sowohl Angestellte als auch Selbstständige. Charakteristisch sei, dass die hier tätigen Menschen keineformellen Arbeitsverträge hätten. Dies mache es besonders für Gewerkschaften schwierig, die in ihren traditionellen Herangehensweisen auf formelle rechtliche Rahmen angewiesen sind; etwa bei der Aushand-lung von Kollektivverträgen. Dass dies ein Problem darstelle, sei verständlich. Aber es müsse da-rum gehen, dass sich die Gewerkschaften an die Realität anpassen, statt das Gegenteil zu erwarten.WIEGO übernehme nicht die Organisierung derinformellen Arbeiter*innen, das würden diese am besten selber können. WIEGO unterstütze sie vielmehr dabei, indem sie entsprechende Daten erhe-be und Möglichkeiten zurVerbesserung von Arbeitsrecht und sozialer Absicherung erarbeite. Dabei würden Forschende und Beforschte in der selben Organisation vereint, was nicht nur einen direkten Austausch möglich mache, sondern den informellen Arbeiter*innen auch einen unmittelbaren Einfluss auf die Ausrichtung und Arbeitsweisevon WIEGO gewähre.
Selbstorganisation der Straßenhändler*innen
Hier setzte auch Lorraine Sibanda an. Sie ist Präsidentin der Vereinigunginformeller Arbeiter*innen in Simbabwe (ZCIEA) und auch von Streetnet International, einem globalen Netzwerk von Straßenhändler*innen. Auch ZCIEA übernehme nicht die Organisierung, z.B.von Straßenhändler*innen, sondern unterstütze sie vielmehr bei ihrer eigenen, kreativen Arbeit und ihren Kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen. So würden etwa Informations-und Ausbildungsangebote über Rechte und Arbeitsschutzmaßnahmen sowie zu deren politischen Durchsetzung angeboten. Eine Hauptaktivität der Vereinigung sei derzeit eine Ausdehnung ihrer Tätigkeiten auf alle Regionen Simbabwes. Dies nicht zuletzt deshalb, weil über 94% der Arbeiter*innen in Simbabwe informell tätig seien – 60% von ihnen seien Frauen. ZCIEA habe eine demokratische Organisationstruktur. Es gebe auf verschiedenen Ebenen Wahlen und Komitees. Außerdem gebe es spezielle Unterorganisationen für Frauen und die Jugend, ebenso sei die Barrierefreiheit ein wichtiges Anliegen. All dies zeige, dass informelle Arbeiter*innen bei Weitem nicht nur einfache Opfer wären, sondern sehr wohl in der Lage, sich aktiv und produktiv für ihre Interessen einzusetzen.
Ähnlich sehe auch das Bild in Kenia aus, führte Teresa Wabukofort. Sie ist stellvertretende Direk-torin von KUDHEIRA, der Kenianische Gewerkschaft für Angestellte in Haushalten, Hotels, Bil-dungsinstitutionen und Krankenhäuser. Die Breite der im Na-men KUDHEIRA genannten Sektoren zeige wie sich informel-le und formelle Ökonomie überschneiden würden. Hier wären nicht etwa nur Straßenhändler*innen beschäftigt, sondern auch Krankenhausangestellte und Apotheker*innen. In Kenia seien 80% der Arbeiter*innen informell tätig, sehr viele von ihnen Frauen. Der Anteil nehme sogar noch weiter zu.Oft sei dabei die informelle Ökonomie der einzige Ausweg –für diejenigen, die in der formellen Ökonomie keine Arbeitsstelle finden können. Obwohl es in Kenia zu einerstetigen Verbesserung des Zugangs zu Bildung und der entsprechend hohen Zahl gut ausgebildeter Personenkomme, wachse die Zahl jener, die keine geregelte Arbeit finden und damit die informelle Ökonomie weiter.Es sei daher dringend notwendig, herkömmliche Gewerkschaftsarbeit zu überdenken und auch informell Beschäftigte zu inkludieren. Nur so sei es möglich für bessere Arbeitsbedingungen für alle Menschen zu sorgen.
Vor allem Frauen betroffen
In der nun folgenden Podiumsdiskussion hob Lorraine Sibanda hervor, dass Frauen überproportional in der infor-mellen Ökonomie tätig seien. Dies liege auch daran, dass Männern die entsprechenden Tätigkeiten oft als unehrenhaft erscheinen würden, während Frauen zur Versorgung der Familie eher bereit seien, diese dennoch aufzunehmen. Aber, fügte Karin Pape ein, die Frauen würden sich dabei oft nicht als Arbeiter*innen wahrnehmen. Ihre Tätigkeiten, so würden sie berichten, „seien einfach etwas was Frauen nun mal tun“. Dabei sei das gesamte Wirtschaftssystem dieser Länder überhaupt nicht vorstellbar ohne die informelle Arbeit von Frauen.
Gleichzeitig, ergänzte Teresa Wabuko, hätten Frauen eine besondere Last zu tragen: Sie seien nicht nur für Einkommensgenerierung, sondern auch für die Betreuung und Erziehung der Kinder zuständig. Mangelernährung z.B. resultiere dann oft aus der einfachen Tatsache, dass die Mütter, wenn sie den ganzen Tag auf dem Markt oder der Straße als Händlerinnen tätig sind, ihre Kleinkinder nicht stillen können. Zu all diesen Schwierigkeiten würden noch weitere Unsicherheiten hinzukommen, etwa die perma-nente Bedrohung, von den oft (irregulär) genutzten Marktflächen vertrieben zu werden. Daher un-terstütze etwa der ZCIEA die Arbeiter*innen dabei, ihre Tätigkeiten und Organisationen zu legalisieren, um so wenigstens einen gewissen Rechtsschutz zu genießen. In Kenia sei die Situation etwas anders,ergänzteTeresa Wabuko. Die Regierung habe eine offenere Herangehensweise zur informellen Ökonomie. Hier gebe es etwa offizielle Zuweisungen von Marktflächen und auch Möglichkei-ten, in die Sozialversicherung einzuzahlen, die an die Bedürfnisse informeller Ökonomie angepasst seien.Aktuell gebe es immer wieder Versuche großer, transnationaler Konzerne mit dem informellen Sektor zusammenzuarbeiten. Während sowohl Sibanda als auch Pape dem nicht grundsätzlich negativ gegenüberstünden, sähen beide diese Aktivitäten durchaus skeptisch – denn es müsse zunächst ein-mal gefragt werden, was hier das Interesse dieser Akteur*innen sei und ob sie die Arbeiter*innen des informellen Sektors nicht eher ausbeuten würden.
Auf die Frage, was hingegen Menschen im globalen Norden zur Unterstützung der informellen Ar-beiter*innen im globalen Süden tun könnten, hob Teresa Wabuko zunächst die ILO-Konventionen hervor. Diese gelte es auszubauen und auf die Bedürfnisse des informellen Sektors anzupassen. Hier könnten Menschen aus dem globalen Norden politisch tätig werden. Auch könnten sie die Arbeit der genannten zivilgesellschaftlichen Organisationen finan-ziell unterstützen. Karin Pape ergänzte, dass auch die ge-werkschaftliche Arbeit darauf ausgerichtet werden müsse, die informell Tätigen aktiv zu integrieren. Gleichzeitigwür-den Arbeiter*innenparteien politisch gestärkt werden müs-sen, damit ihre Selbstorganisation gestärkt würdeund sie ihre Interessen vertreten könnten. Dies sei auch das Ziel von WIEGO.
Norden profitiert von informeller Wirtschaft im Globalen Süden
In der Fragerundewurde zunächst diskutiert, inwiefern Menschen im globalen Norden von der informellen Ökonomie im globalen Süden profitieren würden. Wabuko führte aus, dass beispielsweise viele der Agrarprodukte die etwa nach Europa importiert würden durch informelle Arbei-ter*innen produziert würden. Während in Europa dafür zum Teil hohe Preise gezahlt würden, würden die Arbeiter*innen etwa in Kenia unter sehr schlechten Bedingungen zu sehr geringen Löhnen arbeiten. Es gäbe gute Beispiele, in denen die Zusammenarbeit nördlicher und südlicher Organisationen gut funktioniert habe, erklärte Sibanda. Sie nannte etwa ein EU-gefördertes Projekt zur Integration informeller Arbeiter*innen in lokale politische Prozesse. Aber es sei dabei wichtig, betonte Sibanda, dass Organisationen im globalen Süden Acht geben, ihre Interessen selbst durchzusetzen und nicht einfach die Agenden der Organisationen und Staaten des globalen Nordens zu übernehmen.
Pape ging hier noch etwas weiter: Oft würden nördliche Organisationen gar nicht erst verstehen, wie Probleme im Süden zu lösen seien. Hier sei es unbedingt notwendig, dass ein gleichberechtigterer Austausch stattfände, bevor Projekte begonnen würden.Eine weitere Frage betraf private Versicherungen als mögliche Alternative zum fehlenden öffentlichen Schutz. Die Privaten seien unerschwinglich teuer und würden außer-dem viele Kosten gar nicht erst abdecken, warf Teresa Wabuko ein. Zudem seien sie in Kenia oft als Zusatz zu öffentlichen Versicherungen eingerichtet, nicht als Ersatz für diese. In ähnlicher Weise adressierte Lorraine Sibanda die Frage, ob informelle Arbeiter*innen generell keine Steuern zahlen würden. Dies sei keineswegs der Fall, etwa die Mehrwertsteuer oder lokale Abgaben würden sehr wohl auch von informell Tätigen gezahlt. Darüber hinaus würden sich viele Organisationen informeller Arbeiter*innen für eine Anpassung und Vereinfachung des Steuer-systems dahingehend einsetzen, dass auch die informelle Ökonomie besteuert werden könne. Wichtig sei aber, dass die Arbeiter*innen in der informellen Ökonomie auch Zugang zu den mit Steuern finanzierten Leistungen hätten.
Für die gut 100 Besucher*innen bot die Veranstaltung konkrete Einblicke in die Lebensrealitäten von informellen Arbeiter*innen in Afrika und Europa. Die drei Referentinnen zeigten aber auch auf, dass die dort beschäftigten Frauen nicht nur Opfer sind, sondern für ihre Rechte kämpfen. Sie fordern die nationalen Regierungen auf, Gesetzgebungen zugunsten der informellen Arbeitnehmer*innen anzupassen. International sollten die Wahrnehmung und Respektierung ihrer Interessen und die Unterstützung ihrer Selbstorganisation zentrale Elemente eines solidarischen Handelns werden, so die Botschaftender Referentinnen.