Anfang Dezember 2023 lud das VIDC afghanische Organisationen der Zivilgesellschaft (CSO) und Diaspora-Gruppen aus neun europäischen Ländern zu einer Tagung ein. Das zweitägige Forum umfasste kritische Diskussionen über Versöhnung, die Stärkung der Rolle der Frauen, die Beteiligung von Jugendlichen und Minderheiten sowie die proaktive Rolle, die die Zivilgesellschaft in der Diaspora bei der Förderung eines demokratischen und Taliban-freien Afghanistan spielen könnte.
Der erste Tag des Forums war geprägt von interessanten Vorträgen und Diskussionen, an denen internationale Forscher*innen und Mitglieder der afghanischen Diaspora teilnahmen. Expert*innen wie Kristian Berg Harpviken, Forschungsprofessor am Friedensforschungsinstitut Oslo (PRIO), Maximilian Lakitsch, Dozent am Institut für Global Governance an der Universität Graz, Brigitte Rath, Gründungsmitglied der Women's International League for Peace and Freedom (WILFP) Austria, und Horia Mosadiq, Direktorin des Conflict Analysis Network (CAN) und leidenschaftliche Verfechterin von Menschen- und Frauenrechten, tauschten ihre Ansichten aus. Das Forum konnte auch Wolfgang Petritsch, den Präsidenten des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, als hochrangigen Gast begrüßen.
Staatsaufbau ohne Versöhnung?
Am ersten Tag des Forums erörterte Kristian Berg Harpviken den Wandel der Taliban von einer Widerstandsgruppe zu einer Regierung, wobei er die Herausforderungen hervorhob, die sich ihnen trotz früherer Erfahrungen beim Übergang zur Regierungsführung stellen. Einheit sei für die Taliban von entscheidender Bedeutung, denn sie legten Wert auf internen Zusammenhalt und strebten nach Unabhängigkeit, um nicht als Marionetten Pakistans wahrgenommen zu werden. Harpviken hob ihren theokratischen Staatsaufbau hervor, bei dem sie eine harte Herrschaftstaktik anwenden. Die Taliban, die sich in den Staatsapparat eingegliedert haben, werden für ihre politische mangelnde Flexibilität kritisiert. Harpviken stellte drei Ansätze vor, um mit ihnen umzugehen: bewaffneter Konflikt (nicht praktikabel), Isolation (historisch gesehen unwirksam) und nuancierter Dialog, der eine Umgestaltung der Regierungsführung voraussetzt (umstritten).
Der Vortrag von Maximilian Lakitsch bot eine umfassende Perspektive auf die Rolle der Versöhnung für einen nachhaltigen Frieden, die nicht auf Afghanistan beschränkt ist. Er beleuchtete internationale Friedenspraktiken und bezog sich dabei auf die UN-Friedensagenda (1992). Lakitschs Vortrag befasste sich mit der Komplexität der Schaffung von nachhaltigem Frieden. Er bestritt die Wahrnehmung, dass die Welt friedlicher wird, und führte diesen Anstieg auf grundlegende Probleme bei der Bewältigung gesellschaftlicher Spaltungen und Konflikte zurück. Er betonte die Notwendigkeit einer geeinten und versöhnten Gesellschaft für einen dauerhaften Frieden und hob hervor, wie wichtig es ist, vergangenes Unrecht anzuerkennen und sich in gemeinschaftlich getragenen Versöhnungsprozessen zu engagieren. Er kritisierte die Grenzen internationaler Friedensmissionen und plädierte für eine Verlagerung auf praktische, lokale Ansätze.
Wolfgang Petritsch rief zu einer friedlichen Lösung in Afghanistan auf und hob dabei den Wiener Prozess für ein demokratisches Afghanistan hervor, den er seit der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 zweimal jährlich in Wien organisiert. Vor etwa zwei Jahren wurde Petritsch von Vertreter*innen des afghanischen Widerstands im Exil angesprochen. Er wurde gebeten, ein Treffen für Afghan*innen einzuberufen, deren Ziel es ist, ein Afghanistan aufzubauen, das sich von der Vision unterscheidet, die die Taliban dem afghanischen Volk und der Welt derzeit präsentieren. Er betonte die weltweite Unterstützung und Inklusivität dieser Initiative und drängte auf die Anerkennung der afghanischen Bemühungen der Opposition. Gleichzeitig krisierte Petritsch die Gleichgültigkeit des Westens gegenüber Afghansitan und plädierte für einen demokratischen Rahmen, der auf die Gegebenheiten in Afghanistan zugeschnitten ist und unterstrich die Notwendigkeit eines ausgewogenen Ansatzes zwischen der Zivilgesellschaft und den politischen Opposition.
Stärkung der Stimme der afghanischen Frauen
In ihrem Vortrag über die wichtige Rolle der Frauen bei Friedensverhandlungen betonte Horia Mosadiq, dass die Interessen der Frauen Vorrang haben müssen, da sie im Krieg unverhältnismäßig stark leiden. Sie zeigte sich skeptisch, was die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban und die internationalen Streitkräfte in den zwei Jahrzehnten des NATO-Einsatzes in Afghanistan angeht. Mosadiq forderte die Anerkennung der Geschlechterapartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und bezeichnete die Taliban als Frauenunterdrücker. Trotz ihrer Frustration über die internationalen Institutionen drängte sie auf ein fortgesetztes Engagement, um die drängenden Probleme Afghanistans anzugehen. Im Hinblick auf ihr Eintreten für die Einbeziehung von Frauen in die Friedensgespräche zwischen den USA und den Taliban beklagte sie, dass sie trotz aufrichtiger Friedensabsichten ausgeschlossen worden seien. Mosadiq lehnte die Akzeptanz der Taliban, der Warlords und der Verursacher von Verwüstungen ab und betonte die Notwendigkeit eines anderen Vorgehens.
Brigitte Rath, Gründungsmitglied von WILFP Österreich, erläuterte die vielfältigen Aktivitäten der Organisation, wobei sie den Schwerpunkt auf die Stärkung von Frauen, insbesondere in ihrer afghanischen Frauengruppe, legte. WILFP wurde 1915 gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, Kriege zu verhindern, Abrüstung zu fördern und einen nachhaltigen, auf Gerechtigkeit basierenden Frieden zu schaffen. WILFP drängte im August 2023 die österreichische Regierung, verfolgten afghanischen Frauen und Mädchen Asyl zu gewähren und unterstützte mit einem Grassroots-Projekt 25 besonders gefährdete Frauen und Familien in Afghanistan. Rath schloss mit dem eindringlichen Appell: „Frieden ist Leben“.
Empfehlungen der Tagung
Am zweiten Tag des Forums wurden drei Schlüsselthemen behandelt: a) Förderung von Vertrauensbildung, sozialer Heilung und Versöhnung; b) Stärkung der Rolle der Frau und Teilhabe; Menschenrechte für alle; und d) Engagement der Jugend und Einbeziehung von Minderheiten in den Friedensprozess.
1. Vertrauensbildung, soziale Heilung und Versöhnung
Die Gruppe schlägt vertrauensbildende Mechanismen für die afghanische Versöhnung vor und plädiert für von der Diaspora getragene Initiativen. Zu den Empfehlungen gehören die Eigenverantwortung für vertrauensbildende Prozesse, die Vermeidung ausländischer Interventionen und die Priorisierung des afghanischen Führungspersonals. Die Zusammenarbeit mit internationalen Nichtregierungsorganisationen, die Vernetzung zur Nutzung von Ressourcen in europäischen Ländern und die Schaffung vertrauenswürdiger Diaspora-Organisationen werden hervorgehoben. Außerdem wird in den Empfehlungen die Bedeutung von Medien und Online-Plattformen für Friedensjournalismus und die aktive Beteiligung der Diaspora hervorgehoben. Das übergreifende Ziel ist ein umfassender, von der Diaspora getragener Ansatz zur Verwirklichung eines friedlichen Afghanistans, der die vielschichtigen Herausforderungen anerkennt und die Einheit auf der Grundlage gemeinsamer Ziele fördert.
2. Partizipation und Empowerment von Frauen, Gewährleistung der Menschenrechte für alle
Zu den Empfehlungen gehört, Frauen in den Verhandlungen zwischen dem Westen und den Taliban Vorrang einzuräumen und auf Rechenschaftspflicht zu drängen. Es wird vorgeschlagen, die Taliban durch einen rechtlichen Rahmen zu bekämpfen und sich an Beispielen aus Ländern wie Indonesien und Malaysia zu orientieren, um die Bildung von Frauen zu fördern. Es wird vorgeschlagen, eine Spendenbox einzurichten, in die Diaspora-Mitglieder in Notfällen einzahlen können, und lokale Instrumente zur Stärkung der finanziellen Ressourcen von Frauen einzubeziehen. Die afghanische Diaspora wird dringend aufgefordert, ein kohärentes Konzept für die künftige Regierungsführung in Afghanistan zu entwickeln und eine Plattform für kollektives Handeln zu schaffen. Es werden Bedenken gegenüber der internationalen Gemeinschaft geäußert, wobei die Betonung auf afghanisch geführten Lösungen, integrativen Erzählungen und einer breiteren Fokussierung auf die Rechte der Frauen als grundlegende Rechte liegt.
3. Engagement der Jugend und Beteiligung von Minderheiten am Friedensprozess
Es wird empfohlen, Online-Plattformen systematisch zu nutzen, um Taliban-Narrativen entgegenzuwirken und das Verständnis für die afghanische Kultur zu fördern. Der Aufbau einer strukturierten zivilgesellschaftlichen Gruppe für Lobbyarbeit, Stipendienprogramme und die Verbreitung von Bildungsinhalten ist entscheidend. Hervorgehoben werden die strategische Mobilisierung von Diaspora-Ressourcen, die Überbrückung der Kluft zwischen den Aufnahmeländern und den afghanischen Gemeinschaften sowie die Ausweitung interkultureller Programme, einschließlich Sprachkursen. Um eine Massenmigration nach Europa zu verhindern, sollten sich die EU-Staaten mit den Herausforderungen Afghanistans befassen und mehr Ressourcen bereitstellen. Zudem sollte die EU für Afghan*innen in Europa psychosoziale Unterstützung anbieten und Diskriminierung bekämpfen. Die Teilnehmer betonen die direkte Kommunikation mit der afghanischen Diaspora und heben die entscheidende Rolle der Einheit für ein effektives Engagement hervor.